Arbeitsblatt: Titanic
Material-Details
Die letzten 160 Minuten der Titanic
Geschichte
Anderes Thema
klassenübergreifend
11 Seiten
Statistik
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1549
5
09.04.2015
Autor/in
tanja dettling
Land: Schweiz
Registriert vor 2006
Textauszüge aus dem Inhalt:
Die letzten 160 Minuten der Titanic Es soll eine glorreiche Jungfernfahrt werden: Das grösste und luxuriöseste Schiff alter Zeiten nimmt den At-‐ lantikdienst auf -‐ an Bord einige der reichsten und mächtigsten Männer der Welt. 8000 Zigarren liegen für die Passagiere bereit, 2500 Flaschen Wein und 95 Pakete Opium. Selbst die Auswanderer in der Dritten Klasse reisen so bequem wie auf keinem anderen Gefährt. Es ist der 14. April 1912. Kapitän Smith steuert den Oceanliner fast unter Volldampf in ein Eisfeld. Da mel-‐ det der Ausguck kurz vor Mitternacht eine dunkle Masse direkt voraus . Hochmut kommt vor dem Untergang. Den grössten Luxus auf allen Ozeanen bietet die »Titanic«, aber zu einem Fernglas für den Ausguck im Mastkorb hat es nicht gereicht. Für die Erste Klasse kocht einer der teu-‐ ersten Küchenchefs der Welt, aber ein Scheinwerfer, bei der Kriegsmarine längst selbstverständlich, ist nicht an Bord. Die Eiswarnungen haben sich gehäuft, auf ein Grad unter Null ist die Wassertemperatur gesunken, nur das Salz verhindert das Gefrieren -‐ aber Captain Smith, 62 Jahre alt und höchstbezahlter Kapitän auf Erden, hält eisern Kurs in der mondlosen Nacht. Wer über das grösste Schiff, ja das bis dahin gewaltigste technische Pro-‐ dukt der Menschheitsgeschichte gebietet, fühlt sich offensichtlich über das bisschen Eis erhaben, und pünkt-‐ lich in New York will er ankommen bei dieser Jungfernfahrt, die ein Triumphzug werden soll. Auf sanfteren Sohlen ist eine Katastrophe nie herangeschlichen als diese, die den Hochmut jäh und grau-‐ sam bestraft. Als das Eis dem Riesenschiff die Wunde schlägt, hören nur die Heizer im vordersten Kesselraum einen reissenden Lärm, und der Atlantik schiesst ihnen entgegen. Ein paar Kohlentrimmer, die im Vorschiff schlafen, fallen aus den Kojen. Wer aber sonst an Bord überhaupt etwas wahrnimmt, der spricht von einem Schaben, Kratzen, Schleifen; einer reichen Dame ist, »als ob wir über tausend Murmeln führen«; vier Stewards, bei einem Nachtimbiss im Speisesaal der Ersten Klasse allein, registrieren ein Klappern des Bestecks, in der Backstube im dritten Stock des schwimmenden Palasthotels rutscht ein Blech mit frischen Brötchen vom Ofen. Die meisten der 2200 Menschen an Bord spüren nichts und schlafen weiter, und schon gar nicht ahnen sie, dass für 1500 von ihnen die letzten Stunden ihres Lebens begonnen haben. In den 160 Minuten, bis die »Ti-‐ tanic« versackt, ballen sich mehr Verwirrung, Verblendung, Verzweiflung, Leiden, Aberwitz, als ein Dreh-‐ buchautor je ersinnen dürfte. Es ist 23.40 Uhr am 14. April 1912. Frederick Fleet, der Ausguck im Krähennest 20 Meter über dem Deck, von keinem Scheinwerfer, keinem Fernrohr unterstützt, sichtet eine schwarze Masse, die ein paar hundert Meter vor dem Bug die Sterne verdunkelt, und läutet die Alarmglocke zur Kommandobrücke hinunter, drei-‐ mal. »Eisberg hart voraus!« schreit er ins Telefon. Der Erste Offizier William Murdoch lässt hart Backboard steuern und befiehlt: »Äusserste Kraft zurück!« Doch die »Titanic« schafft es nicht, sich an dem Koloss links vorbeizumogeln. Bis auf sechs Meter unter der Wasserlinie schrammt das Eis steuerbords am Schiffsleib ent-‐ lang und schlitzt ihn an sechs Stellen auf, verteilt über das vordere Drittel seiner Länge von 269 Metern. Zwei Minuten nach dem Zusammenprall, um 23.42 Uhr, ist Kapitän Edward J. Smith auf der Brücke, im-‐ merhin hat er etwas gemerkt. »Schotten dicht!« ruft er. »Schon geschehen!« sagt der Erste Offizier. Murdoch hat die automatischen Türen zwischen den 16 wasserdichten Schottkammern des Schiffes zufahren lassen. Fünf Minuten nach der Kollision stoppt Captain Smith die Maschinen. Es ist die plötzliche Ruhe, das Fehlen von Fahrtwind, Vibration, leicht schwankenden Kleiderbügeln, was viele Passagiere weckt. Einige ziehen sich an, andere werfen sich einen Bademantel über, spähen durch die Gänge oder trauen sich an Deck in die eisi-‐ ge Sternennacht. »Alles in Ordnung!« versichern die Stewards. »In ein paar Stunden fahren wir bestimmt weiter«, versichern viele Passagiere einander und lächeln ein bisschen gezwungen. Zu sehen gibt es nur auf dem Welldeck etwas, der fünften Überwasser-‐Etage, zwölf Meter über dem Meer: Auf ihm liegt Eis herum in Stücken und Brocken, ein paar Passagiere werfen übermütig damit. Im Postraum, vorn unter der Wasserlinie, schwimmen die Päckchen. Aus den Luken im Vorschiff beginnt unterdessen die Luft ihre Todesmelodie zu pfeifen. Das Atlantikwasser presst sie heraus, mehr als fünf Tonnen pro Sekunde platschen in den Leib des Schiffs und machen sich da-‐ ran, seinen Auftrieb zu zerstören. Die 60000 Tonnen Stahl, achtmal so schwer wie Wasser, können ja nur schwimmen, weil sie einen gewaltigen Hohlraum umschliessen, mehr als 46000 Bruttoregistertonnen, das sind 130000 Kubikmeter, überwiegend mit Luft gefüllt. Binnen 160 Minuten wird in der »Titanic« so viel Wasser stehen, dass sie in der Summe schwerer wird als dieses, und die schiere Physik wird sie, bei völlig stillem Meer, in die Tiefe ziehen. Um 23.50 Uhr, zehn Minuten nachdem das Schiff den Eisberg gestreift hat, bricht ein Lärm los, der die Spa-‐ ziergänger von den Decks wieder ins Innere treibt: Aus den Überdruckventilen faucht der Dampf der Kessel: aus den Schornsteinen quillt der Qualm der gelöschten Feuer. Reglos und hell erleuchtet liegt die »Titanic« auf dem Meer. Doch in den untersten Kabinen der Dritten Klasse bilden sich die ersten Pfützen, und am Bug steht das Wasser schon vier Meter hoch in den Laderäumen. Jetzt tritt Captain Smith gemeinsam mit Thomas Andrews, dem technischen Direktor der Belfaster Werft, die das grösste Schiff der Welt gebaut hat, einen Rundgang in die Tiefe an. Sie nehmen die Mannschaftstrep-‐ pen, um kein Aufsehen zu erregen. Kurz vor Mitternacht beginnen nach den Päckchen im Postraum nun auch die Schrankkoffer im Gepäck-‐ raum zu schwimmen, einige Passagiere sehen durch den Treppenschacht zu, eher belustigt als besorgt. Es ist drei Minuten nach Mitternacht, 23 Minuten nach der Kollision, als Smith und Andrews von ihrem Kontrollgang auf die Brücke zurückkehren. Sie ziehen Bilanz, Andrews sagt es klar: »Die »Titanic« wird unter-‐ gehen. Denn die Schotten zwischen den 16 Kammern reichen nicht hoch genug, das Wasser wird drüber-‐ schwappen. Und die Risse ziehen sich durch die vordersten sechs Abteilungen -‐ die »Titanic« aber ist so aus-‐ gelegt, dass sie einen Wassereinbruch nur in den ersten vier Kammern überstehen könnte.« Nun begeht Cap-‐ tain Smith einen Fehler: Müsste er auf das Todesurteil für sein Schiff nicht sofort mit dem S.O.S.-‐Ruf reagie-‐ ren? Er tut es erst kostbare zehn Minuten später. Jetzt, um 00.05 Uhr, ordnet er nur an, die Besatzung zu mobilisieren, die Passagiere zu wecken und die Rettungsboote klarzumachen. »Aber keine Panik, meine Her-‐ ren! Niemand ist in Lebensgefahr«. Der Kapitän selbst eilt wohin? Zu John Jacob Astor, dem reichsten Mann an Bord und in ganz Amerika. »Wir haben einen Eisberg gestreift, Sir. Kein Grund zur Unruhe, aber .« Astors angebliche Antwort liefert die berühmteste der vielen »Titanic«-‐Anekdoten: »Ja, ich habe Eis bestellt, aber das ist ja wirklich lächerlich«. Eilt Smith nun endlich zu den Funkern? Nein, er verständigt andere Passagiere der Ersten Klasse und bittet auch sie, sich warm anzuziehen, die Schwimmwesten anzulegen und sich aufs oberste Deck zu begeben. Hät-‐ te er das nicht den Stewards überlassen können, die ohnehin dasselbe tun? Gegen 00.10 Uhr, eine halbe Stunde nach der Minute Null, versammeln sich auf dem Bootsdeck die ersten unförmigen Gestalten: Passagiere mit Korkschwimmwesten über oder unter ihren Woll-‐, Pelz-‐ oder Bade-‐ mänteln, die meisten aus der Ersten Klasse, denn die andern werden später geweckt und viele überhaupt nicht. Das Zischen der Überdruckventile, aus denen noch immer der Dampf der Kessel schiesst, ist ärgerlich und behindert die Konversation, Angst aber zeigt niemand. Das Meer ist spiegelglatt, die Sterne funkeln, alle Lichter der »Titanic« strahlen, und nur geübte Augen erkennen, dass es zum Bug hin ein wenig abwärts geht. Um 00.14 Uhr endlich betritt Captain Smith den Telegrafenraum und fordert die beiden diensthabenden Funker auf -‐ S.O.S. zu funken? Nein, ihre Kollegen zu wecken, es gebe viel zu tun! Warum muss einer der Funker seinerseits den Kapitän fragen, ob er das Notsignal senden soll? »Ja, sofort!« antwortet Smith. Das nächste Schiff, der Frachter »Californian«, hört den Notruf nicht. Sein Kapitän hat um 22.21 Uhr die Maschinen gestoppt, um im Treibeis aufs Tageslicht zu warten, was nur vernünftig ist; leider ist der Funker schlafen gegangen, kein Notruf wird den Dampfer in den nächsten Stunden erreichen. Im Bauch der »Titanic« harren unterdessen Dutzende von Heizern, Kohlentrimmern, Maschinisten aus, um die Generatoren in Gang zu halten. So funkelt der riesige Sarg aus vielen tausend Lichtern bis wenige Minu-‐ ten vor seinem völligen Versinken, und alle 30 Maschinisten kommen um. Das erste Schiff, das den Notruf der »Titanic« hört, ist der britische Frachter »Carpathia«. Der Kapitän, zu-‐ nächst ungläubig, befiehlt: »Kurs auf die »Titanic«, äusserste Kraft voraus!« Es ist 00.25 Uhr und sogleich ist klar, dass die »Carpathia« zu spät kommen wird: 58 Seemeilen ist sie entfernt, 14 Meilen schafft sie in der 2 Stunde, rund vier Stunden wird sie brauchen -‐ aber nur zwei Stunden hat die »Titanic« noch zu leben, und mindestens zwei Menschen an Bord wissen das auch: der Chefkonstrukteur und der Kapitän. Aufs Bootsdeck strömen die Passagiere nun in Scharen, inzwischen auch die meisten aus der Zweiten und viele aus der Dritten Klasse. Viele Frauen weinen, aber niemand drängelt, keiner rennt. Dass die »Titanic« je untergehen könnte, glauben sie nicht; dass der viel zu geringe Platz in den Rettungsbooten die Hälfte von ihnen zu einem grässlichen Tod verurteilt, wissen sie nicht: und der Kapitän und seine Offiziere, die es wis-‐ sen, handeln nicht danach. Die Rechnung ist einfach. 1308 Passagiere und 898 Mann Besatzung befinden sich an Bord, 2206 Men-‐ schen insgesamt. (Diese Zahl der Passagiere und Besatzungsmitglieder fusst auf zeitgenössischen Quellen. Angaben über die Geretteten und deren Verteilung auf die Boote basieren auf Zeugenaussagen vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss im Jahre 1912. Diese Angaben weichen von den Ergebnissen des britischen Ausschusses aus demselben Jahr teilweise ab.) Für sie sind in den 20 Booten 1178 Plätze vorgese-‐ hen -‐ mehr wird in der britischen Handelsschiffahrtsakte von 1906 nicht verlangt. 1028 Passagiere und Besatzungsmitglieder also sind, falls die »Titanic« untergeht, von vornherein dem Tod geweiht. Welche? Mehr die Männer als die Frauen? Mehr die Besatzung als die Passagiere? Mehr die aus der Dritten Klasse als die aus der Ersten? Auch 105 Kinder sind an Bord, und 53 von ihnen werden sterben. Fast eine Stunde nachdem die »Titanic« den Eisberg gerammt hat, um 00.35 Uhr, beginnen 16 Matrosen endlich damit, die Boote klarzumachen -‐ viel zu wenige Männer also, wieder viel zu spät, überdies nicht auf-‐ einander eingespielt, denn noch nie hat auf der »Titanic« der obligate Bootsdrill stattgefunden, auch ist der vorgeschriebene Bootsoffizier nicht vorgesehen. Und noch dazu klebt alles von frischer Farbe: die Davits, je-‐ ne kleinen Kräne, die die Boote in die Tiefe lassen, und die Boote selbst. Kurz: In den anderthalb Stunden, bis die »Titanic« sich senkrecht stellt, werden von den 20 Booten nur 18 zu Wasser gelassen, und für Dutzende weiterer Menschen bedeutet das den Tod. Doch das ist noch längst nicht alles an Verhängnis und Versagen. Als das erste Boot seine Reise in die Tiefe antritt, sind von den 65 Sitzplätzen nur 28 besetzt. Warum? Zum ersten, weil die Offiziere fürchten, das Boot, vom und hinten aufgehängt, könnte bei voller Belastung durchbrechen. Aber wie konnten sie diese Sorge ha-‐ ben? Und wie konnten sie, falls sie sie hatten, an Bord des ihnen anvertrauten Schiffes solche Boote dulden? Der zweite Grund liegt in der Ratlosigkeit der Passagiere. Niemand berät sie, eine Dame aus der Ersten Klasse empfindet das Ganze als eine nette Abwechslung nach fünfzig oder sechzig Ozeanreisen, und wer Angst hat, der verspürt sie überwiegend eben davor, in einem hölzernen Napf an zwei Seilen durch die Frost-‐ nacht 18 Meter tief dem finsteren Meer entgegenzufahren, da man doch auf einem strahlenden Wunder-‐ werk der Technik steht, das unmöglich untergehen kann! Ja, der Bug liegt nun schon merklich tiefer, unten hört man die ersten Möbel rutschen. Aber das Fauchen der Überdruckventile hat aufgehört, und kein Windhauch ist zu spüren. »Das Ganze ist doch wohl ein Witz«, sagen Passagiere oder »dieses Schiff ist selbst ein Rettungsboot und kann gar nicht untergehen.« Eine Über-‐ lebende versichert, ein Steward habe ihr gesagt: »Nicht einmal Gott könnte dieses Schiff versenken.« Den dritten Grund, weshalb das erste Boot nicht einmal halb voll ist, liefert Captain Smith. Er leitet die Bootsmanöver auf der Backbordseite, und jeder, der auf sich hält oder sich doch mehr fürchtet, als er zugibt, sucht seine Nähe. So gibt es backbords rasch viel mehr Gedränge als auf der Steuerbordseite, wo das erste Boot davon rudert, mit 15 Frauen, 12 Männern und 37 leeren Plätzen. Warum aber rennen sie dann nicht in hellen Scharen nach Steuerbord hinüber, die, die in die Boote wol-‐ len, später wenigstens, als die Sorgen wachsen? Weil sie die Lage nicht übersehen: 28 Meter breit ist ja das Deck, unterteilt durch die Offiziersquartiere, die erhöhten Dächer des Rauchsalons und der Lounge im Deck darüber, die unförmigen Ventilatoren und die vier gewaltigen Schornsteine, jeder in der Grundfläche ein Oval von 34 Quadratmetern, hoch wie ein achtstöckiges Haus. Fünf Minuten nach dem ersten Boot, um 00.50 Uhr, wird das zweite abgefiert, backbords diesmal, unter den Augen des Kapitäns und von Menschen umlagert. Hier also wird doch alles funktionieren? Nichts davon! Captain Smith macht seine zwei nächsten schrecklichen Fehler. 3 »Frauen und Kinder nach backbord!« hat er gerufen, als wollte er sie selbst beschützen, der wackere Mann -‐ und dazu gibt er immer wieder die alte Parole der christlichen Seefahrt aus: »Frauen und Kinder zuerst!« Merkt er nicht, dass die beiden Weisungen, zusammengenommen, Unsinn produzieren? Wer soll denn die zehn Boote auf der Steuerbordseite besteigen, wenn die Frauen doch nach backbord beordert worden sind und die Männer nicht dürfen? Auch der zweite Fehler ist unfassbar: Im ersten Boot, dem Captain Smith den Weg nach unten frei gibt, sit-‐ zen wiederum nur 28 Menschen. Männer dürfen nicht einsteigen, mehr Frauen wollen die Seilfahrt in die schlimme Tiefe nicht riskieren -‐ und der Kapitän des sinkenden Schiffs belässt es bei der Freiwilligkeit! Die Be-‐ fugnis hätte er gehabt, ja die Pflicht, die Autorität sowieso, die Frauen in die Boote zu befehlen, und wenn das nichts half, dann wenigstens genügend Männer hineinzuscheuchen -‐ da er doch weiss, dass sein Schiff verloren ist und jeder leere Platz im Boot ein Toter mehr! So bleibt es bis in den Untergang: Von den 18 Rettungsbooten, die das Wasser erreichen, sind nur vier voll besetzt. Die anderen rudern mit zusammen rund 500 leeren Sitzen von der sinkenden »Titanic« weg -‐ ein mörderischer Wahnsinn, gespeist aus Desorganisation und jener Angst, die keiner zeigen will. Freilich, Hunderte von Passagieren haben das Bootsdeck nie erreicht. Auch dies geht auf das Schuldkonto des Kapitäns: Zwar hat er um 00.05 Uhr der Mannschaft die Weisung erteilt, die Schlafenden zu wecken -‐ aber lückenlos ist das nur in der Ersten Klasse geschehen, und kein Offizier bekommt den Auftrag oder fühlt sich aufgerufen zu kontrollieren, ob die 762 Kabinen wirklich alle geräumt worden sind. Sie sind es nicht. In der Dritten Klasse zumal fallen viele Schläfer erst aus den Betten, als der Rumpf der Senkrechten entgegenstrebt. Wer aber wach ist, hätte erst recht Hilfe gebraucht, wie nur einzelne Stewards sie anbieten: seinen Weg aus den sieben Kilometer langen Korridoren nach oben zu finden, bei einer kaum vorstellbaren Verschachtelung der Klassen, der Etagen, der Aufzüge und der Treppenhäuser, mit Schleichwe-‐ gen und Sackgassen, in denen sich sogar manche Stewards verirren. Die 709 Passagiere der Dritten Klasse -‐ Auswanderer aus halb Europa, 76 Kinder unter ihnen -‐ trifft das am härtesten, denn ihre Kabinen liegen am tiefsten, am weitesten also vom rettenden Bootsdeck entfernt, und die meisten können nicht einmal englische Schilder lesen. Immerhin, 55 Männer der Dritten Klasse werden gerettet, nicht aber Männer wie die Präsidenten der »Pennsylvania Railroad« und der kanadischen »Grand Trunk Railway« oder solche, die nach heutigem Geld sogar Milliardäre sind: Colonel John Jacob Astor, ein Urenkel des gleichnamigen Auswanderers aus Walldorf bei Heidelberg, der im Pelzhandel ein Vermögen machte; oder Benjamin Guggenheim, einer der sieben Söh-‐ ne des Meyer Guggenheim aus Langnau in der Schweiz, der als Hausierer anfing und in Amerika ein Berg-‐ werksimperium aufbaute; oder Isidor Straus aus Otterberg bei Kaiserslautem, der es in New York zum Inha-‐ ber von »Macy« gebracht hat, einem der grössten Kaufhäuser der Welt. Nichts ist es also mit der planmässigen Benachteiligung der Armen durch die Reichen, einem Herzstück der meisten »Titanic«-‐Filme. Desinteresse, ja, aber kaum der Rede wert vor dem Hintergrund der allumfassenden Desorganisation. Nur in einem Fall ist bezeugt, dass ein Matrose eine Tür versperrte, durch die ein paar Passagiere der Dritten Klasse das Deck der Ersten erreichen wollten; sie traten die Tür ein und schafften es doch. Um 00.45 Uhr, gut eine Stunde nach der Kollision, zischt eine Notrakete in die Nacht. Kurz erleuchtet sie das Vorderdeck und viele bleiche Gesichter: Nun ist das S.O.S. ja öffentlich geworden. Dann explodiert sie mit einem Sternenregen -‐ »klein, matt und unnütz«, wie eine überlebende Gouvernante es aufschrieb, »denn nie habe ich einen so leuchtenden Sternenhimmel und so viele Sternschnuppen gesehen«. Ernest Gill, ein Hilfsmaschinist auf der gestoppten »Californian«, sieht das Notsignal trotzdem und auch noch ein zweites. Er sei sich ganz sicher gewesen, bekundet er später vor dem Untersuchungsausschuss des amerikanischen Senats doch Alarm schlägt er nicht. »Es war nicht meine Aufgabe, die auf der Brücke zu ver-‐ ständigen«, sagt er. »Aber die können das unmöglich übersehen haben.« Der Wachoffizier der »Californian« registriert die Erscheinung auch, doch ein Notsignal habe er darin nicht erkannt. So verstreicht die letzte Chance, dass die »Californian« wenigstens gleich nach dem Untergang bei der »Titanic« wäre und jene auf-‐ nähme, die im Eiswasser noch nicht erfroren sind. 4 Kurz vor ein Uhr morgens, 85 Minuten hat die »Titanic« noch, ist der Stand der Dinge dieser: Das dritte Rettungsboot wird hinabgelassen, mit 41 Insassen und 24 leeren Plätzen. Die festlichen Reihen der Lichter in den sieben Überwasser-‐Etagen bilden jetzt einen auffallenden Winkel zum Meeresspiegel. Im Rauchsalon der Ersten Klasse machen vier reiche Amerikaner -‐ ein Stahlfabrikant, ein Maler, ein Wel-‐ tenbummler und der Militärberater des Präsidenten -‐ eine Schau daraus, wie gelassen sich bei einem guten Whisky plaudern lässt, auch wenn der ziemlich schräg in den vom Umfallen bedrohten Gläsern steht. Die Ruhe im Salon sticht wohltuend ab von dem Lärm da draussen: dem Kreischen der Davits und der Fla-‐ schenzüge, den Kommandos, den Abschiedsrufen und der krampfhaft fröhlichen Musik von »Wallace Hart-‐ ley Ragtime Band«. Mit sicherem Instinkt und eisernem Pflichtgefühl -‐ Eigenschaften, die der Schiffsführung schmerzlich fehlen -‐ helfen die acht Musiker auf dem Bootsdeck blasend, trommelnd und fidelnd Panik zu vermeiden, bis an ihr eisiges Ende. Um ein Uhr gibt Captain Smith das vierte Rettungsboot frei, wieder mit 37 leeren Plätzen. Eine Mrs. Eloise Hughes Smith aus Philadelphia hat ihn zuvor gefragt, ob ihr Mann nicht mit einsteigen könne. Platz sei doch genug! Doch der Kapitän schreit nur immer wieder seinen Spruch »Frauen und Kinder zuerst!« durchs Mega-‐ phon. Da bittet sie ihr Mann, der Weisung zu gehorchen, es sei nur eine Formsache, jeder werde hier geret-‐ tet! Er schiebt sie ins mehr als halbleere Boot, ruft »Auf Wiedersehen!« und ermahnt sie noch, die Hände in den Taschen zu behalten, es sei so schrecklich kalt. Dann kehrt er ihr den Rücken -‐ wie so viele Ehemänner; die Überlebende hat das registriert. Auf der Steuerbordseite bringt es das fünfte Boot immerhin auf 40 Insassen, also nur 25 leere Plätze -‐ und auch dies nur, weil der Fünfte Offizier Harald Lowe jedermann ermuntert hat einzusteigen. Da springen ein halbes Dutzend Heizer hinein, auch vier Herren aus der Ersten Klasse mit zwei Dienern und einem Hund -‐ während sich gleichzeitig vier andere Herren der Ersten Klasse von ihren Frauen verabschieden. Was sind schon Plätze, die das Leben retten, verglichen mit einer guten Erziehung und dem Ehrgefühl der britischen Oberschicht! In den Booten setzt das Chaos sich fort, verschlimmert durch Unfähigkeit und rüdes Benehmen bei den Stewards und Matrosen, die als Ruderer in die Boote beordert worden sind. In Boot 3 müssen die Passagiere unter den Sitzen nach Laternen suchen -‐ aber sie finden keine und auch keine Notrationen. Zwei Ruder gehen über Bord. In Boot 8 schaffen es die Stewards nicht einmal, die Ruder in die Dollen zu stecken, und verlangen schliess-‐ lich von den Passagieren, sie sollten selber rudern. Als der einzige Matrose an Bord für Ordnung sorgen will, schreit ein Steward ihn an: Wenn er nicht ersaufen wolle, »dann hör auf, durch das Loch in deiner Visage zu quatschen«. Eine empörte Millionärswitwe sagt das später aus. Und dabei glauben um diese Zeit die meisten noch, zügiges Rudern könnte sie retten! Der Kapitän hat den Bootsführern die Weisung erteilt, auf Positionslichter zuzuhalten, die er und zwei seiner Offiziere zu erken-‐ nen glauben -‐ ein Schiff, höchstens fünf Seemeilen entfernt! Sollte es die »Californian« sein, die demnach noch viel näher wäre, als man auf ihr glaubt -‐ aber hätte sie dann nicht erst recht die Lichtorgie der »Titanic« sehen und Kurs auf sie nehmen müssen? Oder gäbe es noch ein Schiff in der Nähe, das sich nie gemeldet hat? Oder hätte das Funkeln der Sterne in der kristallklaren Nacht die Beobachter auf der »Titanic« getäuscht? Das Rätsel bleibt ungelöst. Um 01.15 Uhr -‐ 65 Minuten vor dem Ende -‐ ist das Vorderschiff bis zum Welldeck überspült, auf das vor anderthalb Stunden die Eisbrocken polterten, einst die fünfte Etage über der Wasserlinie. Aber kopflos ist noch immer keiner. »Wer sich zu Hause den Untergang der »Titanic« ausmalte«, schrieb später Lawrence Beesley, ein junger Lehrer aus der Zweiten Klasse, spürte ein stärkeres Entsetzen als die Passagiere, die auf dem Bootsdeck standen und sie Zoll für Zoll sinken sahen. Die Nacht war so friedvoll, der Himmel so klar, das Meer wie ein Dorfteich, das Schiff ohne Bewegung. Nur inzwischen mit fast 30 000 Tonnen Wasser im Bug. In die Bootsmanöver kommt nun endlich etwas Schwung, elf Boote binnen einer halben Stunde -‐ und auf einmal sitzen 55, 60, ja 70 Menschen in ihnen! Das Misstrauen der Offiziere gegen eine mögliche Überladung ist ebenso geschwunden wie das der Passagiere gegen das Abtauchen in die Tiefe -‐ zumal ihnen die Schrä-‐ gung des Schiffs nun doch unheimlich wird. 5 Um 01.30 Uhr wird zum erstenmal geschossen. Harald Lowe, der Fünfte Offizier, ist dabei, backbords das elfte Boot nach unten zu fieren, und er sitzt selbst darin. Auf der Fahrt hinab kommen sie an zwei Decks vor-‐ bei, auf denen sich Italiener aus der Dritten Klasse »wie wilde Bestien über die Brüstung lehnen«, so sagt Lo-‐ we später aus. Offenbar wollten sie in sein Boot springen, und da es schon überladen gewesen sei (Falsch-‐ aussage, fünf Plätze waren frei!), habe er sie daran hindern müssen: Er zieht die Pistole und feuert dreimal zwischen Boot und Schiffswand hindurch. Verletzt wird keiner, erschrocken sind alle, und dann sind die im Boot erleichtert. Steuerbords aber bricht in derselben Minute Panik aus: Das zwölfte Boot sinkt genau dem gewaltigen Wasserstrahl entgegen, den die Kondensatoren der Dampfmaschinen dicht über der Wasserlinie aus der Bordwand schleudern. Bei dem Versuch, dem Strahl auszuweichen, treibt das zwölfte Boot mit 64 Menschen genau unter das dreizehnte, in dem 70 Menschen sitzen. Die Oberen sehen das nicht, die Unteren schreien, aber die Matrosen an den Davits hören es nicht im Quietschen der Flaschenzüge. Als das obere Boot so dicht über dem unteren hängt, dass darin stehende Männer seinen Kiel erreichen können, gelingt es ihnen, ihr Boot weit genug von der Bordwand wegzudrücken, und nebeneinander liegend merken 134 Menschen mit einem Aufstöhnen, welcher Gefahr sie entronnen sind. Um 01.35 Uhr wird zum zweitenmal geschossen: William Murdoch, der Erste Offizier, der auf der Steuer-‐ bordseite das Kommando führt, feuert über die Köpfe einer Gruppe von Männern hinweg, die in das halblee-‐ re fünfzehnte Boot gesprungen sind, und verjagt sie daraus. Frauen sind nicht mehr zu sehen, es geht offen-‐ sichtlich ums Prinzip, zumal bei »Ausländern«: So nennen die Offiziere und die Passagiere der Ersten Klasse alle, die nicht Englisch als Muttersprache haben. Kurz vor dem Abfieren steigt unbehelligt in dasselbe Boot Lord Joseph Bruce Ismay, Sohn und Erbe des Gründers der White Star Line, der die »Titanic« gehört, und 26 Plätze bleiben leer. Auf der »Carpathia« arbeiten Kohlentrimmer, Heizer, Maschinisten in zwei Schichten. Mit Volldampf durchpflügt sie das Eisfeld, das sie von der »Titanic« trennt. Die Rettungsboote werden klargemnacht, Not-‐ betten aufgeschlagen, Decken gestapelt. Im Speisesaal, der zum Schlafsaal werden soll, hat der Chefsteward seine Männer versammelt und fordert sie auf, ihre Pflicht bis zum Äussersten zu erfüllen, zum Ruhm des Schiffes und der britischen Marine. Ja, die Überlebenden aus den Booten wird die »Carpathia« alle retten -‐ von den tausend, die im Wasser treiben, keinen. Vom Bootsdeck des sterbenden Titanen zischt um 01.40 Uhr die letzte Notrakete in den Sternenhimmel. 40 Minuten vor dem Ende, S.O.S. funkt die »Titanic« noch eine halbe Stunde länger, mit ständig schwächer werdendem Strom. Die angeblichen Positionslichter des mysteriösen Schiffs, auf das alle Boote zurudern soll-‐ ten, sieht keiner mehr. Dem Zweiten Offizier, Charles Lightoller, prägt sich das Bild ein, wie der Atlantik die lange Nottreppe zum Bootsdeck Stufe um Stufe heraufkriecht und jedesmal ein paar Lampen verschluckt, die unter Wasser noch einige Sekunden grünlich weiterleuchten. Lawrence Beesley, der Lehrer, schreibt über diese Minuten: »Die »Titanic« lag absolut still, als hätte der Anprall des Eises ihr allen Mut genommen. Langsam und teilnahmslos sank sie tiefer und tiefer wie ein tödlich getroffenes Tier.« Die in den Booten graben sich in ihre Mäntel ein zum Schutz gegen die schneidende Kälte. Aus dem an-‐ fänglich überwiegenden Wunsch, in der Nähe der »Titanic« zu bleiben, denn sie könne doch nicht unterge-‐ hen, wird mehr und mehr die Angst, dem Schiff zu nahe zu sein, falls es doch untergehen sollte -‐ hört man nicht von einem schlimmen Sog in solchen Fällen, und könnte es nicht passieren, dass Ertrinkende sich an die Boote klammern und sie zum Kentern bringen würden? In Boot 6 glauben die Passagiere einen Pfiff von der »Titanic« zu hören und wollen zurückgerudert werden. Aber der Bootsmann, der das Kommando führt, ruft: »Jetzt geht um unser Leben, nicht um ihres!« Mehrere Frauen, die um ihre Männer bangen, protestieren, doch der Bootsmann flucht so lange, bis sie schweigen. Von den immer schrägeren Lichterketten der »Titanic« wehen weiter die Ragtime-‐Fetzen herüber, und im-‐ mer näher rücken die düsteren Schornsteine ans Meer heran. Als um 01.45 Uhr, 35 Minuten vor dem Ende, das sechzehnte Boot herabgelassen worden ist und nun nur noch vier übrig sind, könnten die rund tausend Menschen auf dem Bootsdeck wissen, dass die meisten von 6 ihnen keine Chance haben -‐ aber noch immer scheinen sie nicht an den unabweisbaren Untergang zu glau-‐ ben. Rund 500 Passagiere sind gar nicht erst heraufgekommen -‐ viele noch immer ahnungslos in ihren Betten, andere in den Gängen und Treppen verirrt und wieder andere sehr fröhlich: Im Rauchsalon der Dritten Klasse wird gelacht, gebechert und sogar getanzt, und dass alle Tische und Stühle bugwärts rutschen und kein Glas mehr steht, macht manche Auswanderer nur noch ausgelassener. Um 01.50 Uhr besucht Captain Smith den Funkraum, ermahnt die Funker, weiter S.O.S. zu senden, und gibt der »Titanic« noch eine halbe Stunde. Wie recht er hat. Auf der Backbordseite wird das siebzehnte Boot klargemacht -‐ das vorletzte, denn zwei können nicht mehr zu Wasser gelassen werden; sie schwimmen später auf. Lightoller führt eine Reihe von Damen der Ersten Klasse vom Bootsdeck in den eingeglasten 6. Stock des sinkenden Hotels hinab, noch fünf Meter über dem Meer; dort hilft er ihnen aufs Fensterbrett und beim Sprung ins Boot, einen Meter weit, denn Schlagseite nach Backbord hat die »Titanic« auch. Das sind die Minuten, in denen Amerikas Geldadel eine verhältnismässig gute Figur macht. Nur als Anek-‐ dote überliefert im Fall von Benjamin Guggenheim: In den Smoking soll er sich geworfen und sich mit Cham-‐ pagner in seine Suite über dem herangurgelnden Wasser zurückgezogen haben; umgekommen ist er jeden-‐ falls. Beglaubigt aber ist das Ende von Isidor Straus, einem der Milliardäre an Bord, und von Ida, seiner Frau. Sie hat sich schon vor einer Stunde geweigert, ins Boot zu gehen, wenn er nicht mit einsteigen dürfe, auf ihn re-‐ den nun prominente Passagiere ein, dies doch zu tun, er sei 67, und Platz sei ja da. Doch Straus erwidert, er werde sein Schicksal mit dem der anderen Männer teilen. Das letzte, was Überlebende von den Strausens sehen, ist, wie sie plaudernd und engumschlungen an der Reling lehnen. Auch von zwei unzertrennlichen jungen Paaren wird berichtet. Von einem Offizier bedrängt, ins Boot zu steigen, antwortet die Braut: »Wir haben unsere Reise gemeinsam begonnen, wir werden sie ge-‐ meinsam beenden.« Als John Jacob Astor seiner Frau ins vorletzte Boot geholfen hat, lehnt er sich aus dem Nachbarfenster und fragt höflich den Zweiten Offizier, ob er sie begleiten dürfe, sie sei schwanger. »No, Sir!« erwidert Lightoller barsch. »Keine Männer, solange noch Frauen da sind.« Dass er den reichsten Mann Amerikas damit zum Tod verurteilt, weiss Lightoller offensichtlich nicht, und es würde ihn wohl auch nicht beeindruckt haben. Colonel Astor unternimmt keinen weiteren Versuch, ruft seiner Frau zu: »Good-‐bye, ich folge dir in einem anderen Boot!«, winkt noch einmal und wendet sich ab. Seine Privatyacht hat sechs Rettungsboote, überdies vier Schnellfeuergeschütze gegen karibische Piraten, nichts geht ihm ja über Sicherheit! Sein Lebensgefühl teilt er vermutlich mit der angelsächsischen Oberschicht: Ihre Reitpferde schätzt sie mehr und behandelt sie besser als ihr Dienstpersonal, so hat die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman es formuliert. Und nun sind es eben die schrecklich kleinen Leute, Zoten, Kindermädchen, Frauen aus der Dritten Klasse, die zu Hunderten ihm vorgezogen werden, und Astor nimmt es klaglos hin. Würden wir heute von einem Öl-‐ scheich Ähnliches erwarten können? Niemand soll uns betteln sehen! Auch das gehört für den superreichen Nichtsnutz aus New York zu den Idealen seiner Klasse. Ehe das vorletzte Boot hinabfährt, wird zum drittenmal geschossen -‐ denn in letzter Minute sind einige Heizer und andere Männer hinein gesprungen. »Raus!« schreien die Offiziere und schiessen über ihre Köpfe. Lieber 23 Plätze leer lassen als Männer retten, ob Heizer oder Milliardäre! Der Wahnsinn hat Methode. Durch die Bullaugen sehen Mrs. Astor und die anderen 41 Insassen des vorletzten Bootes Stühle, Tische, Kommoden in den Kabinen schwimmen. Dann ziehen alle im Boot die Köpfe ein, denn Stühle fliegen über sie hinweg, vom Bootsdeck hinabgeworfen als Flösse, wenn das Unsägliche denn doch geschehen sollte. Fünf Minuten später, um 2 Uhr, schwingen sich zwei Heizer ins Boot, klappernd und triefend -‐ die ersten, die es gewagt haben, in das Wasser von minus zwei Grad zu springen. Ein dritter ist so betrunken, dass er hineinge-‐ hievt werden muss. 7 Gegen 02.05 Uhr, eine Viertelstunde vor dem Ende, werden drei der prominentesten Männer an Bord zum letztenmal gesehen im nun rötlich flackernden Licht. Captain Smith besucht noch einmal die Funker und be-‐ fiehlt ihnen, sich um sich selbst zu kümmern. John Jacob Astor lehnt stoisch auf der Brücke und sieht das Wasser näher kommen. Thomas Andrews, der Chefkonstrukteur, steht mit verschränkten Armen im Rauchsa-‐ lon der Ersten Klasse und blickt zum Fenster hinaus; seine Schwimmweste hat er über einen Tisch geworfen. Aus den Treppenhäusern zum Bootsdeck quellen gerade jetzt noch einmal Menschentrauben: Heizer mit schwarzen Gesichtern, Familien aus der Dritten Klasse, die endlich das Freie gewonnen haben, schreiende Kinder an der Hand. An allen Davits baumeln leere Seile. Und alle hier oben drängeln sich, hangeln sich dem Heck entgegen, weil es wenigstens noch einige Meter aus dem Wasser ragt. Viele murmeln Gebete, andere unterhalten sich mit einer Whiskyflasche. Um 02.12 Uhr, nachdem die »Titanic« zweieinhalb Stunden lang mit erhabener Langsamkeit gesunken ist, beginnt der geschundene Leib zu zittern, und sechs Minuten lang schwenkt er um eine unsichtbare Achse: Indem das Vorderschiff nun zügig abtaucht, hebt es das Heck aus dem Meer. Ein Pfarrer betet laut und er-‐ mahnt die Passagiere, die ihn umringen, zu beten und ihre Sünden zu bereuen; manche fallen dabei um. Und Wallace Hartley klopft an seine Geige und spielt sein letztes Stück. War der Choral »Näher, mein Gott, zu Dir«, mit den Zeilen: »Still all my song shall be -‐ Nearer, my God, to Thee, -‐ Nearer to Thee!«? Oder war der Choral »Autumn«, worin eine der Bitten an den »Gott des Erbarmens« lautet: »Hold me up in mighty waters -‐ stütze mich in übermächtigen Gewässern«? »Autumn« hiess aber zugleich ein populärer Walzer -‐ sollte nicht der dem Auftrag der Ragtime Band am ehesten entsprochen haben? Die Überlebenden widersprechen einander, eine ganze Fachliteratur hat keine Klarheit geschaffen. Sicher ist nur, dass sie schluchzen in den Booten, so oder so, ob sie eine tragisch passen-‐ de oder eine verzweifelt fröhliche Melodie herüberschallen hören, während sie das hundert Tonnen schwere Ruder der »Titanic« aus dem Wasser steigen sehen und die drei bis zu sieben Meter hohen Schrauben. Am schlimmsten trifft die Aufstellung des Hecks die schätzungsweise 500 Menschen im Inneren des Schiffs. Viele fallen jetzt erst aus den Betten und merken entsetzt, wie der Fussboden dabei ist, zu einer Wand zu werden. Viele, die in den verschlungenen Gängen hängengeblieben sind, fallen übereinander oder stürzen in das Wasser, das sich immer weiter nach oben frisst. Viele werden erschlagen von Nachttischen, Palmentöpfen und Klavieren. Um 02.15 Uhr hat der Rumpf der »Titanic« einen Winkel von 45 Grad erreicht, die Brücke taucht in den At-‐ lantik ein. Und wer sich nicht an die Reling oder die Taue der Davits klammern kann oder von einem der ehemals senkrechten Deckaufbauten gestützt wird, rutscht ins Meer, von Stühlen und Fässern getroffen oder polternd überholt. Der 17-‐jährige Jack Thayer erzählt: »Wir waren eine hoffnungslose, benommene Masse Mensch, die nur noch versuchte, den letzten Atemzug bis zum letzten möglichen Augenblick hinauszuschie-‐ ben.« In ihrer Verzweiflung kriechen viele nun erst recht dem Heck entgegen, weil der Atlantik es als letztes schlucken wird. Andere wollen nicht abwarten, bis sie ins Meer fallen, vielleicht den vorher Abgestürzten auf die Köpfe -‐ sie springen ins eisige Wasser; »wie mit tausend Messern« fällt die Kälte sie an, der Zweite Offi-‐ zier beschreibt es so. Nicht genug damit: Lightoller wird vor einen Luftschacht getrieben, durch den Wasser in die Kesselräume schiesst, und vom Sog auf das Drahtnetz genagelt, das den Schacht abdeckt. Mit dem Netz zusammen taucht er zappelnd unter. Ein Turm, illuminiert von Hunderten allmählich verlöschender Lichter -‐ so hebt sich das Hinterschiff der Senkrechten entgegen, schliesslich 60 Meter hoch. Vom Heck stürzen Menschen in schreienden Bündeln in die Tiefe. Die in den Booten packt das Grauen. Viele verhüllen ihr Gesicht. Alle Hoffnung ist geschwunden, alle Ord-‐ nung umgestülpt -‐ ein stehendes Schiff! Ein Skandal wie ein liegender Eiffelturm. Ein Mord: Das Luxushotel stellt sich auf den Kopf zum Sterben, der Eisberg hat es umgebracht. Um 02.18 Uhr, drei oder vier Minuten nachdem die Ragtime Band verstummt ist, vermutlich abgestürzt, bricht im Bauch der »Titanic« ein Getöse los, das den Menschen in den Booten vollends das Blut gefrieren 8 lässt: Der Gigant beginnt sich zu zerstören. Unter dem Maschinenraurn buckelt der doppelte Stahlboden sich ächzend und krachend auf, Stahlplatten, Spanten, Schotten bersten, ebenso die Fundamente der beiden Dampfmaschinen und die je 118 Tonnen schweren Kurbelwellen. Die letzten Lichter der »Titanic« verlöschen. Aus zerfetzten Dampfrohren schiesst ein Heissluftschwall, der Lightoller aus dem Sog befreit und ihn an die Oberfläche speit. Das ist auch die Minute, in der der erste Schornstein kippt: 24 Meter hoch, an die 50 Tonnen schwer, platscht er qualmend und funkenstiebend ins Meer und zerschmettert die Dutzende, die unter ihm in ihren Korkschwimmwesten hängen. Astor ist einer von ihnen. Identifiziert wird seine russgeschwärzte Leiche spä-‐ ter nur mit Hilfe des dicken Diamanten, den er am Finger, und der 4000 Dollar, die er in der Tasche hatte, an die 200000 Mark in heutigem Geld. Auf diesen Lärm folgen zwei gespenstisch stille Minuten. »Erst stellte die »Titanic« sich so steil ins Wasser, als ob sie kopfüber tauchen wollte«, sagt ein Steward später aus, »aber dann überlegte sie sich noch mal und blieb ein Weilchen stehen.« Ans Heck da oben klammern sich noch immer Dutzende, in den Booten hört man keinen Schrei von ihnen. Um 02.20 Uhr, zwei Stunden und vierzig Minuten nachdem der Eisberg die »Titanic« vom Thron ihres Hochmuts hinabgestossen hat, senkt sich das Hinterschiff aus der Senkrechten auf einen Winkel von etwa 70 Grad, und mit rasch zunehmender Geschwindigkeit schlüpft der stählerne Sarkophag ins Meer hinab. Den letzten auf dem Deck rauscht das Ende aller Dinge immer schneller entgegen – sie stürzen, oder sie springen und knallen auf das Wasser, oder sie