Arbeitsblatt: 20 Jahre Mauerfall: Einmal Ku’damm und zurück
Material-Details
Die Geschichte des vereitelten Fluchtversuchs eines befreundeten Paares aus Ostberlin.
Geschichte
Neuzeit
9. Schuljahr
3 Seiten
Statistik
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419
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29.12.2009
Autor/in
Christophe Altermatt
Land: Schweiz
Registriert vor 2006
Textauszüge aus dem Inhalt:
20 Jahre Mauerfall: Einmal Kudamm und zurück Am Anfang stand ein zweitägiger Ausflug an den Kurfürstendamm nach Westberlin. Alles ging glatt. Der Schweizer Peter Gross beschloss, seiner Geliebten Christa Feurich bei der Flucht aus der DDR zu helfen. Alles ging schief, die zwei landeten für dreieinhalb Jahre im Gefängnis. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall besuchen sie die Schauplätze ihrer gescheiterten Flucht. Für Christa (61) und Peter Gross (60) aus Stein am Rhein SH ist es eine Reise in die Vergangenheit, die 35 Jahre zurückliegt und im Ost-Berlin der 70er-Jahre spielt. Es ist die Geschichte einer Flucht, die in die Freiheit hätte führen sollen, aber im Gefängnis endete. Es ist die Liebe zwischen dem Schweizer Peter Gross, ehemaliger Schweizer Botschaftskoch in OstBerlin, und seiner Frau Christa, einer Pharmazie-Ingenieurin aus Ost-Berlin. Er wollte sie 1974 im Kofferraum seines Mini Cooper nach West-Berlin schmuggeln. Dafür kamen beide dreieinhalb Jahre hinter Gitter. Verraten, verhaftet, ausgetauscht. Drei Worte, die drei schreckliche Jahre von Christa und Peter Gross dokumentieren. Doch ihre Liebe war stärker als die Gefängnismauern. Auch wenn manche Wunden nie heilen werden. Heute leben sie glücklich in Stein am Rhein SH, wo sie erfolgreich zwei Geschäfte führen, die Nudel-Box und die Schoggi-Box. Christa und Peter Gross beim jüngsten Berlin-Besuch. Mit SF auf den Spuren der Vergangenheit Wie tief die Wunden sitzen, wird deutlich, als Christa und Peter Gross mit dem «DOK»-Team des Schweizer Fernsehens an Orte stossen, wo einst die Mauer verlief. «Wir sind mit dem Leben davongekommen», sagt Christa und hält dabei fest die Hand ihres Mannes. An einem schönen Maiabend 1974 macht sich Peter Gross für einen vergnüglichen Abend zurecht. Im roten Jeansanzug und knallgrünen Hemd steuert er sein Ziel an: das Tanzlokal Café Nord in der Schönhauser Allee in Ost-Berlin. Schon sein Outfit verrät: «Der Mann ist aus dem Westen!» Während die DDR-Jugend schon Stunden vor Türöffnung geduldig auf Einlass wartet, gewährt man Gross sofort Einlass. Ein paar der begehrten Zeitungen aus dem Westen für den Türsteher, und schon steht Peter im Tanzlokal. Er hätte auch in West-Berlin tanzen gehen können, aber er bevorzugt DDR-Frauen. «Ich mochte ihre natürliche Art, das hatte Charme.» An diesem Abend hätte er jede Frau haben können, aber nur auf eine hat er es abgesehen: Christa, blondes Haar, Mitte 20, Pharmazie-Ingenieurin in einer Klinik am Rande Ost-Berlins. Nach dem ersten Tanz mit ihr sagt er nicht Danke, sondern Merci. Er weiss, dass er damit punkten kann. Klingt doch dieses Wort nach grosser, weiter Welt und erregt die Neugier der DDR-Frauen. Auch Christa ist vom grossen, stattlichen Schweizer sehr angetan: ein Mann mit Manieren, so ihr erster Eindruck. Aus der Bekanntschaft im Tanzlokal wird bald mehr. Christas Vater, ein überzeugter Genosse, ist von dieser Verbindung weniger angetan. Dass seine jüngste Tochter ausgerechnet einen Klassenfeind liebt, passt so gar nicht in sein sozialistisches Weltbild. Am Wochenende unternehmen die Verliebten in Peters Mini Spritztouren ins Berliner Umland. Zwischendurch fliegt Peter immer wieder ins Ausland. Seine Freundin muss er zurücklassen. «Damals wurde mir bewusst, dass Christa in einem Gefängnis lebt, aus dem es kein Entkommen gibt.» Wie alle Diplomaten, geniessen auch deren Angestellten ungehinderte Einreise nach West-Berlin. Peter wird von DDR-Bürgern wiederholt angefragt, ob er ihnen nicht Fluchthilfe leisten möchte. Doch er lehnt stets ab. Erst seine Liebe zu Christa Feurich lässt das Thema Flucht ernsthaft wieder aufkommen. «Eines Tages schlug ich ihr vor, sie im Kofferraum meines Minis nach West-Berlin mitzunehmen. Einmal Kudamm hin und zurück.» Doch nach diesem ersten Besuch im Westen soll Christa wieder in die DDR zurückkehren, da Peter seinen Vertrag bei der Schweizer Botschaft nicht gefährden will. Christa willigt ein, und Peter trifft alle Vorbereitungen für den illegalen Grenzübertritt. Im Kofferraum des Mini Cooper nach West-Berlin In einem Waldstück bei Berlin steigt Christa in den präparierten Kofferraum. Ohne Probleme gelangen sie am Grenzübergang Checkpoint Charly über die Grenze. An jenem Abend reist Peter ein zweites Mal nach Ost-Berlin und verhilft auch der Freundin eines Bekannten im Kofferraum zur Flucht. «Innerhalb von 90 Minuten habe ich zwei Menschen über den schwerst bewachten Grenzübergang der Welt gebracht», erzählt Peter. In West-Berlin angekommen, beziehen die zwei eine Pension. Christa beruhigt sich zunehmend. Sie bummeln über den Kudamm, essen beim Chinesen, und Christa betritt zum ersten Mal in ihrem Leben ein Kaufhaus im Westen. Doch so richtig geniessen kann sie die kurz gewonnene Freiheit nicht. «Ich musste immer wieder an die Rückfahrt denken.» Am nächsten Tag gelangt Christa ungehindert im Kofferraum nach Ost-Berlin. In der DDR nimmt der Alltag wieder seinen Lauf. Inzwischen hat Peter einen neuen Freund: Peter Zehmke, ein Automechaniker, der seinen Mini Cooper hin und wieder repariert und mit dem die beiden auch privat verkehren. Christa und Peter können nicht ahnen, dass ihr sogenannter Freund ein Spitzel der Staatssicherheit ist und schon längst Verdacht geschöpft hat, dass Peter im Kofferraum Menschen in den Westen schmuggelt. Operation «Schleuse», die Rund-um-die-Uhr-Bespitzelung von Christa und Peter, ist bereits in vollem Gang, als sich Christa am 1. Februar 1975 entschliesst, die Flucht anzutreten. Eingezwängt im Kofferraum lässt sie Freunde, Familie, ihr ganzes bisheriges Leben zurück. «Aber die Sehnsucht, in Freiheit zu leben, war stärker als die Angst», begründet Christa. Die Fahrt geht Richtung Grenzübergang Bornholmer Strasse. Kurz vor der Grenze holt Peter nochmals tief Luft und fährt langsam zur ersten Schranke. «Die erste Schranke geht hoch, und ein Grenzbeamter winkt mich durch wie immer. Doch plötzlich kommen sechs mit Maschinenpistolen bewaffnete Beamte auf mich zu und befehlen mir, den Kofferraum zu öffnen. Christa, die hinten zusammengezwängt liegt, hört Peter fragen: «Ist das jetzt neu?» Diesen Satz vergisst sie nie. «Ich ahnte, dass es schief gelaufen ist.» Peter diskutiert mit den «Grenzern» noch eine halbe Stunde, bis einer sagt: «Nun lassen sie doch endlich die Frau raus, die bekommt ja gar keine Luft mehr.» Bevor die Grenzbeamten die zwei in Handschellen abführen, flüstert Peter seiner Christa noch zu: «Ich hol dich hier raus. Egal, was passiert.» Das sind für lange Zeit seine letzten Worte an sie. Was dann folgte, waren dreieinhalb Jahre Inhaftierung. Zuerst landeten sie in der «Roten Burg» in Hohenschönhausen einem Gefängnis, das abgeschirmt am Rande Ost-Berlins lag und das kein DDR-Mensch kannte, weil es auf keinem Stadtplan verzeichnet war. Für Christa und Peter Gross ist die Vergangenheit wieder gegenwärtig, als sie mit dem Schweizer «DOK»-Team das Gefängnis betreten, in dem sich heute eine Gedenkstätte befindet. «Riech mal!», fordert Peter Christa auf, als sie ein Verhörzimmer betreten. «Hier hängt noch der DDR-Mief in den Gemäuern.» Mit kleinen Botschaften im Essen halten sie Kontakt Bis zur Verurteilung müssen sie sechs Monate hier absitzen. Einzelhaft. Die Zelle, fünf mal zwei Meter gross. Eine Toilette, ein Waschbecken, ein Bett. «Das Essen war miserabel. Aber das Schlimmste war, dass ich mit niemandem reden konnte und nicht wusste, wann das ein Ende haben würde. Irgendwann fing ich an zu singen, nur um die eigene Stimme wieder zu hören», erinnert sich Christa. Am 11. Juli 1975, fünf Monate nach dem Fluchtversuch, wird das Urteil verkündet: 5 Jahre Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum ungesetzlichen Grenzübertritt für Peter und 4,6 Jahre für Christa. Nach der Urteilsverkündung werden sie ins Gefängnis «Bautzen II» gebracht. Christa meldet sich freiwillig zum Arbeitskommando Küche. «Wir bekamen kaum Vitamine. Ich hatte Angst, dass mir die Zähne ausfallen.» Wie sich herausstellte, hatte Christas Küchentätigkeit auch einen anderen Grund. «Schon am zweiten Tag erfuhr ich Peters Zellennummer. So konnte ich ihm immer mal kleine Botschaften im Essen verstecken. Er wiederum schrieb mir mit Kreide auf den Boden der Aluminiumnäpfe.» Peter verweigert vom ersten Tag an die Arbeit. «Ich wollte dieses Regime nicht noch durch meine Arbeitskraft unterstützen.» Dafür kommt er in Einzelarrest. «Da gab es nur alle drei Tage eine warme Mahlzeit, ansonsten trockenes Brot.» Auf mehrfaches Drängen ihrer Anwälte dürfen sich Christa und Peter nach eineinhalb Jahren zum ersten Mal für 30 Minuten sehen. «Wir haben uns Mut gemacht und geschworen, dass wir zueinander halten.» Vorzeitige Freiheit dank Austauschs mit Spionen Am 12. Mai 1978 entlässt die Schweiz das DDR-Spionageehepaar Meier-Kälin aus der Haft. Nur vier Tage später werden auch Christa und Peter nach über drei Jahren Haft vorzeitig entlassen. «Wir wurden gegen das Spionagepaar ausgetauscht. Sonst hätten wir länger absitzen müssen.» Sechs Monate nach ihrer Entlassung heiraten sie auf dem Standesamt in Basel. Christa zieht in die Schweiz, bekommt sofort die Schweizer Staatsbürgerschaft. Gemeinsam bauen sie sich ein Leben in ihrer frei gewählten Heimat auf. Doch es sollten noch elf Jahre vergehen, bis für alle Deutschen die Freiheit kam: Am 9. November 1989 verkündet Günter Schabowski, damaliger Sekretär des Zentralkomitees der DDR für Informationswesen, auf einer Pressekonferenz den bescheidenen Satz, der die Welt verändern sollte: «Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, jedem Bürger der DDR zu ermöglichen, die Grenzübergänge zu überschreiten.» Mit einem Satz wurde das Ende der DDR eingeläutet. Es ist der Tag, an dem der Obrigkeitsstaat sein Volk entlassen hat. Am gleichen Abend stürmen Tausende von Ost-Berlinern zu den Grenzübergängen. Um 21.20 Uhr fällt der Startschuss für ein neues Zeitalter. Am Grenzübergang Bornholmer Strasse, dort, wo am 1. Februar 1975 Peter Gross und Christa Feurichs Flucht endete, entlässt der Staat die ersten Bürger in ein freies Berlin. Heute erinnert nur noch ein Schild an den ehemaligen Grenzübergang. Die Stadt hat sich zurückgeholt, was man ihr einst nahm. «Wir würden es wieder tun, wenn wir vor der Entscheidung stehen würden, stimmts?», fragt Christa. «Ja», sagt Peter, «und ich würde wieder alles daran setzen, dich da rauszuholen.» Text Anette Wolffram Eugster Bilder Marcus Höhn