Arbeitsblatt: Als die Raben noch bunt waren
Material-Details
Geschichte nach dem gleichnamigen Bilderbuch
Deutsch
Leseförderung / Literatur
2. Schuljahr
6 Seiten
Statistik
69625
5199
32
20.10.2010
Autor/in
Yvonne Schmid
Land: Schweiz
Registriert vor 2006
Textauszüge aus dem Inhalt:
Als die Raben noch bunt waren Es gab einmal eine Zeit, da waren die Raben bunt. Geradezu kunterbunt. Manche Raben waren rosa mit violetten Schwanzfedern. Andere gelb mit faustgrossen grünen Tupfen. Wieder andere hellblau mit zarten orangeroten Streifen. „Wir stammen in direkter Linie vom Regenbogen ab, sagten die ältesten Raben stolz. Und niemand zweifelte daran. Prächtig sah das aus, wenn sich ein Schwarm Raben im Winter auf einem kahlen Baum nieder liess. Wie schön ihr seid, sagte ein Eichhörnchen, das sein Rostrot ziemlich langweilig fand. „Was, wer, wo, warum?, fragte ein Maulwurf, der bekanntlich bei Tageslicht nicht gut sieht. „Werd ich auch einmal so schön bunt?, fragte ein Spatzenkind und plusterte sich gegen den kalten Wind auf. „Iss endlich und gib Ruh, antwortete die Spatzenmutter verärgert. Angeblich war es ein Schneemann, der diese Frage stellte. Vielleicht war er zornig, weil die Raben immer von seiner Nase naschten. Vielleicht war er neidisch auf ihre Buntheit. Möglicherweise hatte er einfach schlecht geträumt. Vom Frühling. Oder noch schlimmer – von einem sonnigen Sommer. Jedenfalls – er fragte. „Ich persönlich ziehe ja weiss vor, begann er. Trotzdem würde mich eines interessieren: Welche Farbe ist für euch eigentlich richtig? Ich meine, wie muss ein wirklich, echter Rabe aussehen? Er richtet seine Frage an einen blau getupften Raben. „Tzzz, machte der blau Getupfte. „Das siehst du doch. Elegantes Weizengelb mit Tupfen in den Farben des Abendhimmels. „Ich lach mich kringelig, krächzte ein rosagrün Gestreifter. Ein Rabe hat natürlich Streifen zu haben. Am besten kräftiges Nelkenrosa auf Birkenblattgrün. Unsinn!, rief ein Violetter empört dazwischen. Der Urrabe war fliederfarben. Das weiss doch jeder Piepsling. Mir scheint, violett macht blöd, krächzte ein Goldgelber mit moosgrünem Bauch. Schaut einfach mich an, dann wisst ihr, wie ein echter, wirklicher, richtiger Rabe ausschaut. Alle schimpften empört durch einander. „Ich rede überhaupt nur noch mit meinesgleichen, krächzte einer und entfernte sich mit wütendem Flügelschlag. Es war der rosa Gestreifte. Er flog davon, um andere rosa gestreifte Raben zu finden. Er ist zwar ebenso dumm wie rosa, meinte ein gelb Getupfter. Aber wo er Recht hat, hat er Recht. Und auch er flog weg, um andere gelb Getupfte zu finden. Der grosse, bunte Schwarm der Raben zerstreute sich. Man sah nur noch gleichfarbige Raben miteinander ziehen. Gleichgesinnt waren sie deswegen noch lange nicht. Jeder Rabe war ein bisschen anders. Und jeder war davon überzeugt, dass seine persönliche Farbe die einzig richtige war. Geh doch zu den Violetten, wenn dir was nicht passt!, konnte man etwa aus einem rosaroten Schwarm hören. „Du mit deinen grünen Tupfen sei ganz ruhig!, tönte es zurück. Du kannst froh sein, dass dich die Rosaroten überhaupt genommen haben. Damals entstand die Redensart: „Die streiten wie die Raben. Es kam noch schlimmer. Nieder mit flieder, brüllte eines Morgens ein türkisfarbener Rabenschwarm. Die bläulich Grünen stürzten sich auf ihre violetten, lila und fliederfarbenen Artgenossen. Sie hackten erbittert mit ihren Schnäbeln aufeinander los. Ein Menge bunter Federn blieb auf dem Kampfplatz zurück. Was hältst du von einem Nest – ganz lila und türkis?, fragte ein Amseljüngling seine Gefährtin. Schön – aber zu auffällig, entschied sie seufzend und zeigte mit einer Kopfbewegung nach unten. Ein grosser grauer Kater stapfte durchs morgenfeuchte Gras. Überall sah man streitende, raufende, kämpfende Rabenschwärme. Krieg der Farben nannten sie das. Und waren auch noch stolz darauf. Wir kämpfen für rosa und Recht!, hiess der Kampfruf der Rosaroten. Es gilt als erwiesen: Echt sind nur die Türkisfarbenen!, krächzten die bläulich Grünen. Wir lassen nicht locker – ein Rabe ist ocker!, brüllten die Gelblichen in KrächzChören. Dann kam der Regen. Es war kein gewöhnlicher Regen. Es tropfte, trommelte, strömte schwarz vom Himmel. Hoffentlich schadet das meiner zartrosa Haut nicht, sorgte sich das Schwein. Mein schönes Rostrot, sagte das Eichhörnchen. Es wird doch wohl keine schwarzen Flecken kriegen? Ein Frosch ganz in Schwarz? Ist ja schlimm, ist ja schlimm!, jammerte der Laubfrosch. Nur die Amseln und der Maulwurf blieben gleichgültig. Regt euch nicht auf, sagten sie. Schwarz ist eine sehr kleidsame Farbe. So plötzlich wie der Regen begonnen hatte, hörte er auch wieder auf. Besorgt betrachtete jedes Tier sein Spiegelbild. Das Schweinchen war schweinchenrosa geblieben, das Reh rehbraun, das Rotkehlchen rotkehlig, der Feldhase feldgrau, der Laubfrosch zartgrün wie Frühlingslaub. Aber die Raben! Es war, als hätte der schwarze Regen nur die streitenden Raben treffen wollen. Da sassen sie jetzt, ebenso verdutzt wie schwarz. Es gab keine rosa, lila, grünen, gelben Raben mehr. Keine getupften und keine gestreiften. Sie waren so gleich, dass sie Mühe hatten sich selbst von den anderen zu unterscheiden. Und natürlich wusste keiner mehr, gegen wen er eigentlich kämpfen wollte. Sie waren rabenschwarz, und sie blieben rabenschwarz. Nur ein blaugrüngelber Rabe war zur Zeit des schwarzen Regens gerade auf Urlaub im Urwald. Als er zurückkam, fand er seine eigene Familie erst nach langem Suchen und Fragen. Ist es nicht ein bisschen auffällig, wie du herumfliegst?, fragte ihn seine Schwester nach einiger Zeit verdriesslich. Ganz recht, zieh dir was Ordentliches an, stimmte ein entfernter Onkel zu. Da flog der bunte Rabe zurück in den Urwald.